Eine Antwort von Ulrich Wotschikowsky, Wolfsexperte und Wildökologe, auf die Frage, wozu es den Wolf braucht:
„Wir brauchen auch keine Mehlschwalbe, keinen Enzian und kein Edelweiß, keine Opern und keine Kunstwerke. Aber die Welt wäre doch viel ärmer ohne sie. Außerdem, wie können wir es uns erlauben, die Schöpfung in Frage zu stellen? Wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sie zu erhalten.“
Dossier der Gesellschaft zum Schutz der Wölfe
Immer wieder kommt in der Diskussion um wild lebende Wölfe die Frage: „Wozu brauchen wir den Wolf überhaupt, ohne ihn sind wir doch gut zurechtgekommen?“ Wir zeigen, wo der Wolf tatsächlich nützlich ist. Und fragen gleichzeitig, mit welchem Recht der Mensch Lebewesen eigentlich in nützlich und schädlich einteilt.
Brauchen wir den Wolf? Diese Frage wird in Deutschland umso lauter, je mehr sich die Tiere bei uns verbreiten. Oft klingt darin der Wunsch mit, den Rückkehrer wieder loszuwerden. Für uns ein Anlass, nach Antworten zu suchen.
Biodiversität und Umweltschutz sind Ziele, die eine Mehrheit unserer Gesellschaft befürwortet. Und doch wird beim Wolf sehr kontrovers diskutiert, ob er das Recht hat, bei uns zu leben. Für viele Wolfsgegner ist die Sache klar. Wölfe dürfen gerne leben, aber nicht bei uns, sind wir doch sehr lange Zeit ohne sie gut zurechtgekommen. Außerdem, so die Argumentation, kosten sie zu viel Geld: Nutztierhalter müssen viel investieren, um ihre Tiere zu schützen. Und trotzdem reißen Wölfe manchmal Nutztiere. Vor solchen Kosten-Nutzen-Diskussionen steht eine ganz andere Frage:
Was gibt uns eigentlich das Recht, die Daseinsberechtigung einer bei uns seit Jahrtausenden natürlich vorkommenden Art in Frage zu stellen? Dahinter steht ein weit verbreiteter, menschlicher Ansatz, Tiere in nützlich und schädlich zu unterteilen und danach zu entscheiden, welche Tiere in unserer Nachbarschaft
leben dürfen. Er zeigt aber auch die Natur des Menschen, der abwehren möchte, was das eigene Wohlergehen vermeintlich gefährden könnte.
Wozu ist der Wolf also gut? Eine einzige Antwort kann es darauf nicht geben: Wir Menschen prägen unsere Umwelt in Europa so stark, dass wir durch Landwirtschaft, Jagd, Freizeitaktivitäten und Zersiedelung einen größeren Einfluss auf natürliche Lebensräume und ihre Bewohner haben, als Wölfe ihn, selbst in zivilisationsferner Wildnis, haben können. Hier sind dennoch einige Beispiele dafür, wie die Anwesenheit von Wölfen positiv auf ihren Lebensraum wirken kann.
Wichtiger Teil eines widerstandsfähigen Ökosystems
Der Wolf gehört zu unserem Ökosystem dazu. Je vollständiger und vielfältiger ein Ökosystem ist, desto stabiler und widerstandsfähiger ist es. Der Wert solcher von Artenvielfalt geprägten Ökosysteme kann angesichts des Klimawandels nicht hoch genug eingeschätzt werden. Je gesünder sie sind, desto besser können sie helfen, Stürme, Dürre, Insektenbefall und andere Effekte des Klimawandels abzumildern. Das ist in der Land- und Forstwirtschaft bares Geld wert. Wie die US-Biologin Felicia Keesing vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie betont, ist die Ausbreitung neuer Infektionskrankheiten
in Ökosystemen mit hoher Artenvielfalt geringer: Einzelne Tierarten und damit auch deren Viren haben es laut Wissenschaftlerin bei höherer Vielfalt schwerer, sich durchzusetzen und übertragen sich
seltener auf neue Wirte. Der Wolf kann eine wichtige Rolle für die Artenvielfalt und Gesundheit der Ökosysteme spielen.
Zuallererst für seine Beutetiere und mittelbar auch für weitere Arten wie Aasfresser, die sich von den Überresten der Wolfsrisse ernähren, sowie für den gemeinsamen Lebensraum (s. nächster Punkt). Die Rückkehr der Wölfe ist ein wichtiger Baustein zur Renaturierung von Ökosystemen, wie eine Studie der Forschung im Nationalpark Bayerischer Wald bilanziert.
Wölfe können die Waldverjüngung anstoßen
Zwar ist es nicht ganz so simpel, wie ein altes russisches Sprichwort sagt: „Wo der Wolf jagt, wächst der Wald.“ Damit ist gemeint, dass Wölfe Rothirsche, Rehe und Wildschweine jagen, wodurch Verbissschäden durch das Schalenwild kleiner werden und Pflanzen besser nachwachsen können. Die Beziehung
zwischen Wolf, Wild und Wald ist in unserem Kulturraum aufgrund der erwähnten zivilisatorischen Einflüsse vielschichtiger als das Sprichwort nahelegt.
Eine Beobachtung ist jedoch allen wissenschaftlichen Untersuchungen zum Einfluss der Wölfe auf ihren Lebensraum gemein: Wo Wölfe leben, beeinflussen sie, wie lange und wo sich das Wild aufhält. Ihre Beutetiere müssen mobiler sein: Sie wechseln häufiger die Futterplätze und bilden teils kleinere
Gruppen, was das Risiko verkleinert. Da die Tiere zwischendurch immer wieder sichernd die Gegend prüfen, verkürzt sich die Äsungszeit noch einmal. Und wo weniger Hirsche, Rehe und anderes Beutewild kürzer grasen und knabbern, bleibt die Pflanzenwelt gesünder. Wildschäden werden reduziert. So berichten Studien aus dem US-amerikanischen Yellowstone Nationalpark, dass es seit der Wiederan-siedlung von Wölfen mehr Weiden und Espen gibt.
Auch in anderen Wolfsgebieten wurde festgestellt, dass die Ökosysteme bessere Verjüngungschancen haben, was vielfältigere Lebensräume und mehr Artenreichtum bedeutet. Selbst wenn sich der Verbiss in unseren Breiten in einigen Fällen zunächst nur verlagert, dürfte er bei starker Wolfspräsenz auch hier zurückgehen, so eine Studie der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft der Schweiz. Durch die Jagd auf Beute helfen Wölfe zudem bei den Anstrengungen, einen angepassten Wildbestand zu erreichen, der der Kapazität des Lebensraumes entspricht. Auch das führt dazu, dass der Wald sich besser verjüngen und gesünder wachsen kann.
Fortsetzung: Artikel aus der Ökojagd 2 - 2021 unten als Download
Auszug aus: Marco Heurich, Welche Effekte haben große Beutegreifer auf Huftierpopulationen und Ökosysteme? Erschienen in: Naturschutz und Landschaftsplanung 47 (11), 2015
Infolge der Rückkehr der großen Beutegreifer in Europa und Nordamerika in den letzten Jahren wurden zahlreiche Forschungsarbeiten über ihren Einfluss auf Huftiere und Ökosysteme veröffentlicht.
Erste Untersuchungen in Deutschland